Sonntag, November 9

Hindenburg in Bayern: Eine Büste wird vom Sockel gestoßen

Was man auf dem Bild sieht ist eine Gedenktafel für den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Das mag im preussisch geprägten Teil Deutschlands nichts besonderes sein. Was aber hat Sie im bayerischen Voralpenland zu suchen? Und warum fehlt die Büste?

Das Resultat eines Literaturabends

 

Gehen wir chronologisch vor. Ich nutze das Wochenende in München zur Erholung. 2 Wochenenden am Stück war ich nicht in München, 2 kommende Reisewochenenden stehen mir bevor. Vielleicht kennt Ihr das. Verteilt in der Wohnung, auf dem Schreibtisch, Sofa und neben dem Bett liegen Bücher, die mal lesen möchte, aber noch nicht die Musse hatte tiefer einzusteigen.

So ging es mir also am Samstag Abend bei einer Kanne Roibos Tee und ich vertiefte mich in den Gesprächsband von Giovanni di Lorenzo und Helmut Schmidt. Ein lesenswertes Buch, mit Statements eines wahren Stoikers, Hanseaten und Elder Statemens/Ex Bundeskanzlers. Häufiger geht es um politische Auseinandersetzungen mit dem langjährigen CSU Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß. Helmut Schmidt gibt zu FJS persönlich geschätzt zu haben und bezeichnet Ihn mehrfach als fabelhaften Rethoriker.

Als ich dass Buch von Schmidt/Lorenzo zurückstelle in die Politik Ecke des Bücherregals, bleibt mein Blick hängen an der FJS Autobiographie. Ich habe Sie schon vor Jahren aus neobajuwarischem Interesse in einem Antiquariat gekauft. 600 Seiten Politik hatte mich dann aber wohl jahrelang abgehalten einen tieferen Blick hineinzuwerfen.  

Ein Blick in die Strauss Autobiographie


Nun wage ich einen Blick und lese die ersten 30 Seiten der Strauss Autobiographie. FJS hat Sie nur ein halbes Jahr vor seinem Tod auf Band gesprochen und ich finde es hochspannend, dass er gegeüber der ersten NSDAP Parteizentrale an der Schellingstrasse als Sohn eines einfachen Metzgers grossgeworden ist.

Hängen bleibe ich aber an einem Zitat über den Reichspräsidenten und Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Als Reichspräsident hat er als Greis Hitler zum Kanzler gemacht, als Miterfinder der Dolchstosslegende die Weimarer Republik torpediert und als Generalfeldmarschall unter Wilhelm II den Tod hunderttausender Soldaten im WW I in die Schlachten um Verdun zu verantworten.

FJS in seiner Autobiographie über eine Unterhaltung mit dem Ex-Reichkanzler Brüning:

"Über Hindenburg, der Ihn (Brüning) rücksichtslos hatte fallen lassen, verlor Brüning kein schlechtes Wort. Eine ironische Anmerkung: Für mich hat Hindenburgs Metamorphose begonnen, als er seine Hirsche nicht mehr bei uns in Bayern, in Dietramszell, schoss, sondern in Neudeck in Westpreussen. Solanger er noch unter bayerischen Einfluss stand, nicht von ostelbischen Gutsbesitzern wie Oldenburg-Januschau, waren die Dinge noch in Ordnung."

Hindenburg, der Ultra Preusse -geboren 1845 in Posen- soll lange Jahre in Bayern, in Dietramszell, gejagt haben? Das begann mich zu interessieren.

Ja es stimmt. 1922 bis 1932 verbrachte Hindenburg seine Sommerfrische in Dietramszell. Ein wenig Google und dem Oberbayerischen Volksblatt sei Dank:

Hindenburg und Dietramszell – das ist eine besondere Geschichte. Sie führt zurück in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Der Forstfachmann Georg Escherich aus Isen bei Dorfen (Landkreis Erding) wird in das unwirtliche Waldgebiet Bialowies („Gouvernement Warschau“) entsandt. Er soll die Erschließung des Urwalds in Angriff nehmen. Bialowies ist auch ein Jagdrevier. Eine besondere Attraktion: Wisente. Escherich gibt nur einzelne Exemplare zum Abschuss frei, insgesamt acht Tiere. Zuerst darf am 12. November 1915 Kaiser Wilhelm II. ein Tier erlegen. Als nächster ist dann im Januar 1916 Kriegsheld Hindenburg an der Reihe. Er wird es Escherich nie vergessen. Die beiden bleiben befreundet. Sie sind auch Gesinnungsfreunde – für Demokratie und Republik haben beide nichts übrig. 
Es kommt die Kriegsniederlage, es kommt die Revolution und die Republikgründung. Hindenburg, der Held, mischt in der Politik mit, aber er ist noch nicht Reichspräsident (das wird er erst 1925). 1921 erleidet er einen Schicksalsschlag. An seinem Wohnort Hannover stirbt seine Frau Gertrud. „Nicht zuletzt, um sich nach dem Tod seiner Frau abzulenken“, schreibt der Historiker Wolfram Pyta, „besann Hindenburg sich wieder auf seine alte Jagdpassion.“ Sein alter Jagdkumpan Escherich setzt ihn auf die Gams an. Im Sommer 1922 logiert Hindenburg erstmals in Oberbayern, Escherich bringt ihn bei der mit ihm befreundeten Familie Schilcher unter, der das Dietramszeller Klosterschloss gehört. Hindenburgs Jagdausflüge in das Revier Fall an der Isar hinter Lenggries waren für den damals schon über 70-Jährigen eine Strapaze. Eine Lore der Holzabfuhrbahn, die mit Sitzen versehen und von Pferden gezogen wurde, brachte ihn ein Stück bergauf. Den Rest musste Hindenburg aber selber gehen. „Dass er diese Strapazen bis 1931 Jahr für Jahr auf sich nahm und mit einem oder mehreren guten Böcken belohnt wurde, zeugt von seiner Leidenschaft für das edle Waidwerk wie von seiner guten körperlichen Konstitution“, schreibt Historiker Pyta.

Die meisten Google Suchergebnisse nach "Hindenburg in Dietramszell" werden aber von einem aktuelleren Thema bezüglich Dietramszell und Hindenburg bestimmt. Vor dem Dietramszeller Klosterschloss -einem oberbayerischen Spät-Barock Juwel- stand seit Ende der 30er Jahre eine Hindenburg Büste. Aufgestellt von den ehemaligen Besitzern der Familie Schilcher, abgehängt niemals. Auch nicht von den heutigen Besitzern einem Selesianer Stift und einer Montessori Schule.

Wie man mit der Vergangenheit umgeht -Hindenburg war in weiten Kreisen der konservativen Gesellschaft ein angesehener Mann- ist so eine Sache. So lassen? Hinweistafel? Abreissen?

Meine Heimat Münster hat sich für folgende Lösung entschieden:



Ein Münchner Aktionskünstler entschied sich im Sommer 2014  in Dietramszell aktiv zu werden. Er entnah kurzerhand die Büste, versah Sie mit einem Hakenkreuz und setzte Sie in den Garten der Nachfahren derer von Schilcher.

Ein wahrer historischer Krimi entsponn sich nun. Wusste ich doch nicht, was seitdem mit der Büste geschehen war. Es nützte nicht. Ich musste heute in das 5000 Einwohner Dorf. Keinen Bahnhof gibt es dort, also beschloss ich das Mountainbike zu nehmen und 70 KM über Land gen Süden zu fahren. Die hüglige Moränenlandschaft trotzte mir einige Körner ab, aber ich war motiviert. Ein wenig fühlt ich mich wie in einem Dan Brown Roman, noch viel mehr aber wie Umberto Eco in seiner Vorschrift zum Roman "Im Namen der Rose":

"Am 16. August 1968 fiel mir ein Buch aus der Feder eines gewissen Abbé Vallet in die Hände: Le manuscript de Dom Adson de Melk, traduit en français d'après l'édition de Dom J. Mabillon (Aux Presses de l'Abbaye de la Source, Paris 1842). Das Buch versehen mit ein paar historischen Angaben, die in Wahrheit sehr dürftig waren,  präsentierte sich als die getreue Wiedergabe einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, die der große Gelehrte angeblich seinerseits im Kloster Melk gefunden hat".

Mit diesem Satz beginnt der legendäre  Roman "Der Name der Rose". Umberto Eco warnt den Leser der deutschen Ausgabe augenzwinkernd aber ein paar Sätze später:  

"Der geneigte Leser möge bedenken: Was er vor sich hat, ist die deutsche Übersetzung meiner italienischen Fassung einer obskuren neugotisch-französischen Version einer im 17. Jahrhundert gedruckten Ausgabe eines im 14. Jahrhundert von einem deutschen Mönch auf Lateinisch verfassten Textes."

Mit dem Radl auf dem Weg nach Dietramszell


Ganz so verworren war es dann bei mir doch nicht und ich erfreute mich der zauberhaften Herbstbilder und immer andersartiger Blicke auf das Alpenpanorama von der Zugspitze bis zum Wendelstein.



Dietramszell ist eine beliebte Einfamilienhausstadt im Süden Münchens. Knapp über der Hälfte zwischen Landeshauptstadt und Tegernsee. Zwar stehen hier weniger Bonzenhäuser wie in den Münchner Vororten Grünwald oder Sauerlach, aber es geht gediegen zu. Auch Kulturschaffende wie die Autorin und Moderatorin Amelie Fried oder der Regisseur Marcus H. Rosenmüller sollen hier wohnen. Auf dem Weg dorthin fahre ich durch viele Dörfer, die durch Kircherl, Wirtshaus, Bauernhof und Dorfweiher geprägt sind. Idylle pur.

In Dietramszell ist es durch das Klosterschloss, was gleichzeitig die Pfarrkirche ist, anders. Vom Wirtshaus fährt man noch 300m einen steilen Berg runter und steht urplötzlich vor den massiven waldumrandeten Klostermauern.

Im Angesicht mit der Hindenburg Gedenktafel


Der geneigte Leser weiss es schon und ich sehe es auch schnell. Die Büste ist noch immer nicht wieder da. Hindenburg ist gone, un die Hinweistafel ohne Büste fällt kaum weiter auf. Ich nutze die darunterliegende Bank für eine lange Pause mit Brotzeit und geniesse die warme Novembersonne.


Immerhin die Einfahrt zum Klosterhof mit den Hirschgeweihen erinnert vielleicht noch an den alten Preussen in Bayern. Eine Geschichte nach meinem Geschmack. Ende offen.

Geschichtsnostalgie ala Dietramszell


Nachtrag:

Die Dietramzeller haben  es ein wenig mit Geschichtsnostalgie. Neben dem Kloster erinnert eine Wirtshauswandmalerei an die letzte Postkutsche Bayerns:



Nachtrag 2:

Im Dezember 2013 kam es zu einem Eklat als Hitler und Hindenburg die Ehrenbürgerwürde der Stadt Dietramzell nochmals pro Forma entzogen werden sollte (laut bayerischer Gemeindeordnung erlischt Sie mit dem Tode). Brisantes Abstimmungsergebnis: 8:8 unentschieden. Im zweiten Wahlgang klappte es dann doch.

Nicht nur die süddeutschen Gazetten auch amerikanische Late Night Talker (Jaret Leno) amüsierten sich über das "kleine Dorf im Süden Deutschlands".


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